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Bildung & Begegnung, Naturgeschichten teilen

Respektvoll, achtsam und staunend erzählen in Bibliotheken

2023-03-31, 12:10

Ein Rückblick auf das Projekt „Erzählen im Norden“

Storytelling in Zeiten der Klimakrise? Manche reagierten skeptisch, als das neue Projekt „Erzählen im Norden“ den Büchereien im Herbst 2022 vorgestellt wurde. Der Ansatz war anders als bei vielen anderen Projekten, richtete sich an Erwachsene, kam ohne Bücher aus – und genau deshalb wurde das Projekt auch aus Mitteln zur „Innovation in Bibliotheken“ vom Land Schleswig-Holstein gefördert.

Dabei geht es eigentlich um eine alte Kulturerfahrung der Menschheit: Warum und wie erzählen wir uns die Welt, gerade auch mit ihren Gefährdungen und Unverfügbarkeiten? Wie haben das besonders die Menschen im Norden, z.B. in Island, in der Finnmark und in Grönland, getan und tun das weiterhin? Was können wir hier und heute davon lernen, wenn uns unter dem Druck der gegenwärtigen Verunsicherungen manchmal die Worte abhanden kommen? Und was verändert sich dabei in unserer Beziehung zur Natur, angesichts von Grenzen der Machbarkeit wie auch in der Kommunikation miteinander?


Bibliotheken als Orte der Verbundenheit in Krisenzeiten

Gerade nach der Corona-Zeit haben viele Teilnehmenden im Verlauf des Projekts gespürt, wie belebend und wohltuend es ist, sich wieder mehr Zeit zu nehmen für persönliche Begegnung. So konnten die beteiligten Bibliotheken nicht zuletzt ihre besondere Qualität und Chance als offene Orte für Austausch, Verständigung und Perspektivwechsel zur Entfaltung bringen – und durch das neue Angebot auch Menschen erreichen, die bislang nicht zu den regelmäßigen Gästen in der Bibliothek gehörten.

Als erfahrene Expertin für das „Erzählen im Norden“ trug Dr. Eva Ritter maßgeblich zum Gelingen bei. Sie schöpft durch mehrjährige Aufenthalte und Forschungsarbeiten in verschiedenen Ländern des Nordens nicht nur aus einem großen Schatz an Wissen, Geschichten und Erlebnissen. Sie hat auch die besondere Gabe, gleichermaßen einfühlsam und sachkundig davon zu erzählen und andere Menschen in diese besondere Art des Wahrnehmens und Beschreibens mit hinein zu nehmen. Dabei ging es auch um das Lernen von bzw. den respektvollen Umgang mit den Traditionen indigener Kulturen des Nordens. Viele Teilnehmende haben es am Ende als besonders bereichernd und wohltuend beschrieben, dass sie durch diese narrative und kommunikative Vermittlungskunst der Referentin nicht nur neue Perspektiven und tiefe Einblicke gewonnen haben, sondern auch eine Inspiration für das eigene Wahrnehmen, Bedenken und Erzählen.


Schlüssel zu einer gesellschaftlichen Transformation

Denn erfahrbar wurde mit jedem Treffen: Das Erzählen unterstützt den Aufbau und Zusammenhalt von Gemeinschaften. Es dient der Wissensvermittlung und der Weitergabe von Werten, Weltbildern und gesellschaftlichen Regeln. Und es wirkt anders, als wir es hier und heute in unserer Kommunikation oft erleben: nicht als Marketing-Instrument und nicht als Machtmittel, um Menschen für die eine Sache oder Meinung zu gewinnen. Vielmehr geht es bei dieser Art des Erzählens um eine veränderte Haltung der Natur und dem Leben gegenüber: respektvoll, achtsam, staunend, dankbar oder auch schmerzlich…und mit einem so veränderten Verhältnis zur Natur verändert sich auch etwas in unserem Verhalten.

Eva Ritter beschreibt das so: "Der Schlüssel zu einer gesellschaftlichen Transformation ist Bildung für nachhaltige Entwicklung. Bildung, in der sich Wissen nicht auf Fakten beschränkt, sondern zu emotionalem Verständnis und Systemdenken wird, das zu nachhaltigem Handeln führt.“

Mit Schwerpunkten in der Stadtbücherei Wedel wie in der Gemeindebücherei Tarp haben sich im Verlauf von insgesamt acht Gesprächsrunden und Train-the-Trainer-Seminare, die den Winter über stattfinden konnten, zwei Zentren im Süden wie im Norden von Schleswig-Holstein gebildet.

Und schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Anregungen aus der Projektzeit in diesen Regionen weiterwirken - vielleicht mit neuen Möglichkeiten in der dann sommerlichen Natur. Wie und mit welchen Ideen genau – das wird aktuell noch ausgelotet. Auf der Seite der Zukunftsbibliotheken-sh gibt es schon jetzt einen digitalen Ort, an dem Inspirationen und Informationen zum Thema zukünftig ihren Platz finden können:

Link: „Naturgeschichten teilen“

Bei der Abschlussveranstaltung in der Akademie Sankelmark zitierte Susanne Brandt von der Büchereizentrale Schleswig-Holstein als Initiatorin und Koordinatorin des Projekts aus dem neuen Buch von Birgit Schneider „Der Anfang einer neuen Welt. Wie wir uns den Klimawandel erzählen, ohne zu verstummen“, um das Anliegen von „Erzählen im Norden“ auch noch aus einer anderen Perspektive auf den Punkt zu bringen.

Birgit Schneider schreibt in ihrem Buch u.a.:

„Die Suche nach neuen, anderen Stimmen und anderen Sichtweisen sind miteinander verbunden. Der kolumbianisch-amerikanische Anthropologe Arturo Escobar […] empfiehlt, die vielfältigen Weltsichten und Existenzweisen dieser Erde ernst zu nehmen […] Das kann gelingen, wenn man imaginäre Positionen einnimmt, den Standpunkt wechselt und den Klimawandel aus der Perspektive verschiedener Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft wahrzunehmen versucht. Nahes lässt sich aus der Ferne betrachten und Fernes aus der Nähe, Abstraktes kann man mit Konkretem ins Verhältnis setzen und Globales mit Lokalem. […] Nicht zuletzt können auch nicht-menschliche Wesen wie eine versteinerte Auster, ein Fuchs oder ein Baum in der Stadt neue Perspektiven liefern. […] Ich trete dafür ein, dass wir andere Formen und Formate [brauchen], um Sinn zu erzeugen – in einer Welt, in der vieles nur noch auf dissonante und schmerzhafte Weise Sinn ergibt. Aus diesem Grund hoffe ich weiter auf die Kultur als einen Raum, in dem über Deutungen ästhetisch, erzählerisch und kritisch spekuliert werden kann, in dem wir unser Fühlen und Vorstellen dehnen, entwickeln und miteinander teilen können […]

Das Denken über den Klimawandel ist festgefahren und erstarrt. Die Bilder sind gleichsam durchsichtig geworden, die Geschichten sind so bekannt, dass viele weder an sie glauben noch emotional von ihnen berührt werden. […] Es ist von größter Wichtigkeit, vielfältiger über das Thema Klimawandel zu reden, zu imaginieren und nachzudenken und dabei auch die Gefühle ernst zu nehmen. […] Kulturelle Erzählweisen ermöglichen es, neue Perspektiven einzunehmen und Türen zu neuen Räumen des Vorstellens, Denkens und Fühlens aufzustoßen. All diese Ansätze sind noch nicht ausreichend genutzt worden, als Öffnungen, die aus festgefahrenen Denkweisen herausführen.“*

Das Projekt „Erzählen im Norden“ hat in den beteiligten Bibliotheken und Regionen ein Fenster geöffnet. Das ist ein Anfang. Und die Menschen, die daran beteiligt waren, sind weiter mit den Geschichten und Erfahrungen unterwegs…


Quellen & Links:

*Zur Quelle des Zitats: Birgit Schneider: Der Anfang einer neuen Welt. Wie wir uns den Klimawandel erzählen, ohne zu verstummen. Berlin, 2023. S. 256-264 in Auswahl gekürzt)

Mehr Details zum Projekt: https://zukunftsbibliotheken-sh.de/start/veranstal...

Mehr über Eva Ritter: von https://nordicperspectives.com/


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