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Bildung & Begegnung, Demokratiebildung, Digitalisierung & Nachhaltigkeit, Kooperationen

"Was uns gesellschaftlich fehlt, ist hinhören". Impulse für die Praxis

2023-10-26, 13:57

Lesen gilt als Schlüsselqualifikation für die gesellschaftliche Teilhabe. Lesekompetenz steht daher im Fokus vieler Leistungsvergleiche, Bildungspläne wie auch Maßnahmen zur digialen Kompetenz und lässt zugleich andere Aspekte und Bedeutungen des Lesens – etwa den persönlichen Austausch zur ästhetischen Lektüre,  das Begreifen von Zusammenhängen beim Vorausdenken und Verknüpfen wie die vielfältigen Teilhabechancen durch Erzählkultur - eher in den Hintergrund treten.

Bei aktuellen Projekten, in denen sich die Büchereizentrale Schleswig-Holstein 2023 mit weiteren Bildungspartnern und Büchereien engagiert, steht u.a. die Frage im Mittelpunkt, wie Leseförderung und Bildung für nachhaltige Entwicklung in Kooperationen miteinander verbunden werden können: Welche Form von Lese- und Erzählkultur trägt wie und warum zur Demokratiebildung bei und bringt das vorausschauende und vernetzte Denken in Bewegung?

Diese und viele andere Fragen stellen sich schon früh, und zwar bereits in Familie und Kita beim Vorlesen. Nachfolgende Gedanken verweisen zunächst auf interessante Kernaussagen aus einem Interview mit Prof. Dr. Iris Kruse (1) wie aus den Forschungen von Dr. Nadine Naugk (2) und lassen anschließend einen gedanklichen Bogen schlagen zur Förderung von (Vor)lese- und Erzählkultur in und mit Bibliotheken.

Durch Geschichten und Bilderbücher erfahren Kinder, dass Medienrezeption etwas mit Selbst und Welt, mit dem Eigenen im Fremden zu tun hat. Beim dialogischen Vorlesen können Kinder ihre Gedanken und Wahrnehmungen dazu teilen, Ähnlichkeiten und Unterschiede im Austausch erfahren. Sie werden ermutigt, über das eigene Selbst hinaus zu denken und ihre Vorstellungen von Welt zu erweitern. Dieser Prozess erfährt dann in der Schule idealerweise eine Weiterentwicklung: Das stille Lesen als Erfahrung des „Bei-mir-seins“ wird im Gespräch zu den Leseeindrücken um das „Beim-anderen-sein“ ergänzt und um etwas für alle Neues erweitert. Was als Dialog zwischen Einzelnen beginnt, kann auf die gesellschaftliche Ebene übertragen werden.

Iris Kruse: „Was uns gesellschaftlich fehlt, ist hinhören, hinfühlen, teilen, sich selbst kundtun und den anderen wahrnehmen.“

Hinzu kommt: Erzählerische Komplexität wirkt einer zunehmenden Fragmentierung von Wissen entgegen und hilft dabei, auch komplexere Zusammenhänge im gesellschaftlichen Leben zu erfassen. Das wirkt präventiv gegen die Anfälligkeit für vereinfachenden Populismus. Deshalb braucht es auch in der Schule Zeit und Raum für das austauschorientierte Lesen und Erzählen, bei dem sich Resonanz und Berührtsein aus stillen Lektüreerfahrungen neu und anders entfalten können. Das aber ist im Unterrichtsalltag nicht immer und überall gegeben. Denn im Zuge von Kompetenzorientierung und Standardisierung zur besseren Messbarkeit besteht die Gefahr, dass Literatur und Erzählfähigkeit zum Erwerb technischer Lese- und Sprachkompetenzen instrumentalisiert und nicht in ihrem Eigenwert gesehen und geschätzt werden.

Iris Kruse: „Es wird viel Lesen geübt mit Kinderliteratur und viel zu wenig zu ihr empfunden, über sie nachgedacht, über sie gesprochen.“

  • (1)  zusammengefasst nach: „Dialog und Begegnung gehören zum Lesen dazu“ von Annika Franzetti im Interview mit Prof. Dr. Iris Kruse, in: Communicatio Socialis (2/2023) 56: 208-217

Ein Umdenken im Sinne von mehr Zeit und Raum für Mündlichkeit, für Austausch und Teilen von Gedanken beim schulischen Lesen wäre also vielerorts nötig.
Und in der außerschulischen Bildung? Welche Rolle spielen die hier zusammengefassten Gedanken aus dem Interview mit Iris Kruse bei Angeboten und Projekten von Schulbibliotheken, Stadt- und Gemeindebüchereien, von ehrenamtlichen Lesepaten oder außerschulischen Kultur- und Bildungspartnern wie Kinderliterarturhäusern und -vereinen? Und wie verbinden sich Leseförderung und Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) als zwei grundlegende Querschnittsaufgaben dabei?

Ergänzen lassen sich die oben zusammengefassten Gedanken und Fragen speziell im Blick auf die Praxis der Sprach- und Leseförderung im Vor- und Grundschulalter noch um eine weitere Erkenntnis. Nadine Naugk (2) hat im Rahmen eines Dissertationsprojekts die Zusammenhänge von mündlichem Erzählen und konzeptioneller Schriftlichkeit sowie den Gebrauch von bildungssprachlichen Elementen in Fantasiegeschichten bei Grundschulkindern genauer erforscht. Davon lässt sich ableiten: Durch das freie Erzählen von Fantasiegeschichten erfährt der Prozess des Lesen- und Schreibenlernens zumindest auf konzeptioneller Ebene eine wichtige Unterstützung. So üben Kinder dabei basale Fähigkeiten ein, etwa das Vorausdeuten von Ereignissen oder das Aufstellen und Überprüfen von Hypothesen durch das Nutzen von Kontexten.

  • (2)  zusammengefasst nach: Naugk, Nadine: Phantasiegeschichten erzählen – Zugang zur Schriftlichkeit? In: kjl&m 19.4, S. 64-69, als Dissertation komplett HIER

Beispiele und Impulse aus der Praxis in und mit Bibliotheken

Bei „Wörter, Holz & Steine“ als aktuelles Erzählprojekt für die Jüngeren wie beim Projekt „Welt.Worte.Wandel“, das sowohl „Leseratten-Treffs“ mit Grundschulkindern als auch Buchwerkstätten mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen beinhaltet, werden Begegnungen mit Literatur um kreative Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten mit Sprache und Material ergänzt. Die Impulse aus dem oben zusammengefassten Ansätzen zur dialogischen und austauschorientierten Lese- und Erzählforschung lassen sich hier also mit bedenken und reflektieren. Denn das Gespräch, das Hören aufeinander, die gegenseitige Wahrnehmung und das gemeinsame Gestalten spielen bei diesen Projekten eine entscheidende Rolle im ergebnisoffenen Prozess – nicht, um bestimmte Leistungen einzufordern, sondern um Sprache und Erzählen gestalterisch einzubringen in den gemeinsamen Diskurs, das Entdecken und Nachdenken über die Welt und die eigene Rolle darin. Auch bei Projekt-Klassikern wie den „Dezembergeschichten“ regen tägliche Gesprächsimpulse zu Geschichten das gemeinsame Gespräch und Weiterdenken im Unterricht an.

Und im bibliothekarischen Alltag?
Es gilt, immer wieder Gelegenheiten zu nutzen und zu schaffen, um Literatur nicht nur zur Ausleihe bereitzustellen, sondern ins Gespräch zu bringen. Schulbibliotheken und Öffentliche Bibliotheken bieten als Räume der Begegnung, in denen es nicht um Leistung und Bewertung geht, eine einladende und offene Atmosphäre dafür – mit Menschen, denen Wahrnehmung und Zuhören wirklich am Herzen liegt. Beste Voraussetzungen also, um ein demokratisches Miteinander und ein Nachdenken über die Zukunft der Welt im Sinne von BNE immer wieder neu und kreativ anzuregen.

Susanne Brandt

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